Die einfachen Leute
November 2018
Vor ein paar Tagen entdeckte ich einen Artikel im Tages-Anzeiger mit der Überschrift «Absturz der Sozialdemokraten in Europa». Ausschlaggebend für die Veröffentlichung war die Landtagswahl in Bayern und der dortige Verlust der SPD.
Enttäuschend war, dass dieses eigentlich wichtige Thema nur oberflächlich behandelt wurde. Eine lieblose Aneinanderreihung von Statistiken ohne ernsthafte Analyse ist nach meiner Auffassung kaum die Bezeichnung «Journalismus» wert. Die wenigen Versuche eine Ursache auszumachen erschienen mir eher unmotiviert. So heisst es im Artikel unter Anderem «So verschwand in den letzten Jahrzehnten nach und nach die Wählerbasis der Sozialdemokraten: die Arbeiterschaft.» Wirklich? Wohin? In den Atlantik? Selbst wenn die Behauptung über die verschwundene Wählerbasis stimmen würde – was ich sehr bezweifle – fehlt mir hier immer noch die Antwort auf die wichtigste Frage: Warum ist das so?
Aus der verpassten Chance wurde dann aber an folgender Stelle eine regelrechte Dreistigkeit:

Journalistischer Höhenflug: Die einfachen Leute.
Man ist also entweder human und sozial oder gehört zu den einfachen Leuten. Sehr schön. Warum aber der Euphemismus und nicht gleich vom dümmlichen Pöbel reden?
Es ist genau diese arrogante Haltung seitens der Presse (und der etablierten Parteien), welche den extremen Kräften in Europa momentan Aufwind gibt. Die braune Suppe brodelt und die Linken drehen dabei fröhlich das Gas weiter auf. Das ist es nämlich, was diese Kreise tun, wenn ihnen Empathie und Introspektion fehlen.
Wenn ich böse Absichten vermuten würde, könnte ich ja in gewisser Weise noch damit umgehen. Ich fürchte allerdings – und dies ist weitaus schlimmer – dass die Zuständigen in solchen Fällen gar nicht mehr merken, wie weit sie sich bereits von der Realität entfernt haben.
Orwell hat das Problem 1937 in seinem «Road to Wigan Pier» bereits sehr schön zusammengefasst. Dort heisst es unter anderem: «Sometimes I look at a Socialist — the intellectual, tract-writing type of Socialist, with his pullover, his fuzzy hair, and his Marxian quotation — and wonder what the devil his motive really is. It is often difficult to believe that it is a love of anybody, especially of the working class, from whom he is of all people the furthest removed.»
Mich nervt schon eine Weile – spätestens seit der Wahl der egozentrischen Orange zum amerikanischen Präsidenten im November 2016 – die mangelnde Einsicht und Selbstkritik auf der linken Seite des politischen Spektrums. Anstatt sich ernsthaft zu fragen, ob man nicht vielleicht einen Fehler begangen hat – was einem erlauben würde eine Lösung für das Problem zu finden – kneift man stoisch die Augen zu und gibt allen Anderen die Schuld. «Wer nicht meine Seite wählt, ist dumm und ein Ignorant. Woanders kann das Problem nicht liegen.» So stelle ich mir die innere Stimme dieser Leute manchmal vor.
Ich bin nun wirklich kein Philanthrop und ein Optimist schon gar nicht, aber ich traue meinen Mitmenschen dann doch mehr zu, als dass sie Trump und AfD nur wählen, weil sie über Nacht alle Nazis geworden seien.
Bei den Linken ist man derweil so fest davon überzeugt auf der Seite der «Guten» zu sein, dass jegliche Kritik, welche dem widerspricht, ignoriert oder als Häresie abgetan wird. Ich benutze übrigens ganz bewusst das Wort Häresie, denn der dogmatische Glaube dieser Leute, die besten Absichten und Ideen für alle Anderen in der Gesellschaft zu haben, hat in seiner Orthodoxie etwas stark Religiöses. Und davon brauchen wir nun ganz sicher nicht noch mehr.
Aber zurück zum Tages-Anzeiger. Über Twitter auf die «einfachen Leute» im Artikel angesprochen entstand folgender Dialog:

Vielen Dank auch für das Gespräch!
Interessant, wie man mir zuerst einreden will, dass ich kein Deutsch kann und dann – darauf angesprochen – beleidigte Leberwurst spielt. Noch interessanter aber die klammheimliche Textänderung, welche eine Stunde oder zwei später stattfand:

Ozeanien war immer schon im Krieg mit Ostasien: Neues Edikt beim Ministerium für Wahrheit.
Ich würde ja gerne glauben, dass es sich hierbei um die Art der Einsicht handelt welche ich mir weiter oben gewünscht habe. Wenn man sich aber die Tendenz der anderen Artikel beim Tages-Anzeiger anschaut, kommt man zum Schluss, dass es in diesem Fall wohl doch nur darum ging, ein Feuer zu löschen.
Das ist bedauerlich, aber vor allem gefährlich, denn gerade jetzt bräuchte es kritische – und selbstkritische – Stimmen in der Presse. Es bräuchte bessere Recherche, weniger Anbiedern an den Publikumsgeschmack, mehr Analyse, mehr Nüchternheit, Reflexion und Empathie, aber vor allem auch mehr Selbstironie.
Lustig von mir, hier so zu schimpfen und dann mehr Nüchternheit und Empathie zu verlangen, nicht wahr? Ich nehme mir diese Freiheit jedoch gerne heraus. Erstens weil ich kann und zweitens, weil ich eine der grössten Tageszeitungen der Schweiz kritisiere. Dort arbeiten mehrere Dutzend Journalisten, die den ganzen Tag nichts anderes tun als zu recherchieren, zu schreiben und zu revidieren. Und genau deswegen sollten sie es eben besser wissen als ich. Ich gehöre schliesslich zu den einfachen Leuten.